Mongolische Wissensordnungen im 18. und 19. Jh.: Die Konstituierung einer "Lehre der Schamanen"

Im 17. Jahrhundert erhielt Europa das erste Mal Nachrichten über die Schamanen in Nord- und Zentralasien. Seither hat die Faszination des Schamanismus nicht nachgelassen. Seine ideengeschichtliche Entstehung im Europa der Aufklärung und Romantik wurde im Zuge der Orientalismusdebatte in den Kultur- und Sozialwissenschaften gründlich aufgearbeitet, und in der Forschung hat sich inzwischen die These durchgesetzt, dass der „Schamanismus“ eine in Europa konstruierte Religion sei, die keine empirische Entsprechung in den sozialen Realitäten der Herkunftsgesellschaften habe. Ob es jedoch in den Herkunftsgesellschaften zu ähnlichen Konstruktions-prozessen einer „Religion der Schamanen“ gekommen ist, die möglicherweise die europäische Rezeption beeinflusst haben, ist hingegen bisher nicht gefragt worden. Diese Lücke möchte das Projekt schliessen. Es ist an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft und Mongolistik angesiedelt und untersucht am Beispiel der Konstituierung der „Lehre der Schamanen“ (mong. böge-ner-ün shasin) in den mongolischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts die Konstruktionsprozesse von Wissensordnungen im Kontext der Globalgeschichte. Ausgehend von der Annahme, dass sich partikulare Wissenskulturen in verschiedenen Weltregionen gleichzeitig formieren und prinzipiell gleichwertig sind, soll im Sinne einer globalen Verflechtungsgeschichte die inhaltliche Ausformulierung des mongolischen „Schamanismus“ als ein von tibetischen, mongolischen und russischen Akteuren geformtes komplexes historisches Konstrukt beschrieben werden. Dessen diskursive Ausformulierung war zudem von den kolonialen Ordnungen des zaristischen Russland und des mandschurischen Qing-Reichs beeinflusst. Dieser Einfluss impliziert jedoch nicht, dass die mongolischen Eliten lediglich auf die Ideen und Konzepte ihrer russischen und mandschu-rischen Kolonialherren reagierten. Vielmehr wird grundsätzlich von einer diskursiven Verschränkung ausgegangen, die Transferprozesse in verschiedene Richtungen zur Folge hatte.

Theoretisch stützt sich das Projekt auf geschichtswissenschaftliche Ansätze zur Globalgeschichte, postkoloniale Entwürfe zu Geschichtsschreibung und Identitätskonstruktionen und verbindet diese mit kultur-soziologischen Konzepten Bourdieus. Methodisch ist es in der historischen Diskursanalyse verortet. Den Textkorpus bilden mongolische Quellen sowie russische ethnographische Berichte und Archivdokumente. Die Studie möchte einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der Rolle, die aussereuropäische Wissensordnungen im Prozess der Herausbildung analytischer Kategorien in einer globalen Moderne spielten und spielen.

Projektteam
Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz (PL)
Piotr Sobkowiak, Lic. phil.

Projektdauer
11.2012 - 11.2015